Das Leid mit der Leitkultur (Wo ist das Mädchen, das sieht, daß der Kaiser nackt ist?)

Zur Leitkulturdebatte um die Thesen des bundesrepublikanischen Innenministers de Maizères nur soviel:

Da steht ja nun nicht viel weltbewegendes drin, das Eine oder Andere mag glücklicher oder unglücklicher formuliert sein… aber der Grund für den Aufschrei erschließt sich mir nicht ganz.
Woran ich mich bei diesen Thesen störe, ist, daß diese Thesen als Beschreibung einer „deutschen Leitkultur“ daherkommen. Was darin beschrieben wird, ist in meinen Augen nichts anderes als der europäische Wertekanon. Er gilt nicht nur in den deutschen Ländern, sondern in allen europäischen Regionen ergänzt und bereichert durch regionale Besonder- und Eigenheiten – schon innerhalb der einzelnen Staaten.

Was ich de Maizère vorwerfen würde, ist sein Versuch à la 1871 die – wie ich das sehe – eigentlich doch künstlich zu nennenden Idee des  „einheitlichen Deutschtums“ mit ebenso gekünstelten Charakterisierungen zu untersetzen, die fälschlicherweise auch noch behaupten, daß das nur auf Deutschland zutreffen würde. Mit dieser Art Thesen erleben wir eine unnötige Renationalisierung des politischen Denkens, es werden so auch zu unseren europäischen Nachbarn Grenzen gezogen, die eigentlich nicht existieren. Er dividiert vor den Augen der „deutschen“ Leser Europa eher auseinander, als daß er uns das Gefühl gibt Teil Europas zu sein. Es ist richtig, daß Integration dort besonders gut funktioniert, wo die, die schon da sind einen starke emotionale Bindung an ihre Scholle mitsamt Kultur und Wertekanon besitzen. Dem Neuankömling präsentiert sich dadurch eine attraktive Gemeinschaft, dessen Teil zu werden er sich eher vorstellen kann als nur in eine beliebige Masse geworfen zu werden. Nur sollte diese Scholle eben nicht etwas abstraktes von knapp 360Tsd. km² Größe sein. Ich bin ein großer Freund von Identität und starker Bindung an die eigene Scholle, aber ich halte dafür die großnationale Kategorie für die falsche. Eine Bundesrepublik Deutschland ist kulturell derart heterogen, daß man beim Versuch sich auf auf gemeinsame „Eigenschaften“ zu einigen, die über die Verkehrssprache hinaus gehen, zwangsläufig nur auf Gemeinplätze verständigen kann, die dann auch fehlinterpretiert werden können und in heroisierende, selbsterhöhende Bilder münden, die wenig mit dem eigentlichen Wesen der Bürger in den Region gemein haben – wir sind nicht ohne Grund als Föderation entstanden und dies bis heute geblieben.

Ich habe – anders als noch weiter links oder grün von mir – keine grundsätzliche Aversion gegen das „Deutsche“ an sich, sowie ich auch kein Problem mit dem „Französischen“, dem „Italienischen“, dem „Polnischen“ oder dem „Spanischen“ an sich habe. Ich störe mich lediglich an den Versuchen, diese großen, kulturell heterogenen Verwaltungseinheiten jeweils zum Maßstab einer einzigen Identität machen zu wollen – sowohl als Eigenbeschreibung als auch als Ergebnis einer Betrachtung von außen.. Großreiche sind nur eine Idee und brauchen künstliche Identitätsmomente, in die sich einige dann aber auch so richtig hineinsteigern können. Das ging in der jüngeren Vergangenheit schief und gleicht auch heute einem Spiel mit dem Feuer. Nur um einer 9%-Partei das Wasser abzugraben, ein zu hoher Einsatz. Alles was diese Partei über 9% bekommt ist dem undemokratischen, hysterischen Umgang mit ihr zuzuschreiben.

Letztendlich sind die zehn Thesen für sich betrachtet annähernd harmlos und rechtfertigen nicht den medialen Aufschrei, nur beschreiben sie eben nicht das typisch „Deutsche“, sondern das typisch „Europäische“. Als europäischer Regionalist erkenne ich sowie so nirgendwo etwas typisch Deutsches, es gibt regionale Gepflogenheiten, die sich auf der gedanklichen Wanderung durch Europa von West nach Ost und Nord nach Süd immer ein wenig ändern, unter direkten, regionalen Nachbarn schleichend. Ein Vergleich zwischen Start- und und Zielpunkt dieser gedanklichen Wanderung zeigt, daß wir uns aber doch unterscheiden. Und dennoch bleiben wir uns so ähnlich, daß wir alle unter das europäische Dach passen, welches auch von diesen Thesen beschrieben wird. Geeint in Vielfalt, Unterschiede erkennen, bennenen dürfen und gemeinsam feiern. So stelle ich mir ein attraktives Europa der Regionen vor. Dann klappt es auch mit der Integration, zumindest bestünde dafür dann ein deutlich attraktiveres Angebot….

Wir müssen deutlich regionaler und europäischer zugleich werden, und das auch noch mit Freude und aus tiefstem Herzen….

Eine sehr schöne Erwiderung zu den Thesen findet man hier:

Die Zehn Thesen zur Rheinischen Leitkultur

 

..noch etwas anderes…

Heute ist Tag der Pressefreiheit!

Haben Sie mal nach den 10 Thesen de Maizères zur Leitkultur gegoogelt? Auch erfahrene Internetnutzer dürften einen Weile gebraucht haben, um diese Thesen irgendwo unkommentiert am Stück zu finden. Fast überall in der Presselandschaft wird dem Leser die eigene Meinungsbildung kaum zugetraut. Allerorten finden sich Voranstellungen, Ergänzungen, Nachbemerkungen, Einordnungen der sowieso nur teilweise wiedergegebenen Thesen. Nichts gegen das Kommentieren und Werten, aber ich hätte schon gern, die Thesen irgendwo 1:1 am Stück gelesen.
Fündig bin ich letztendlich auf der Seite des Bundesinnenministers geworden.

Ich meine, daß man es uns Bürgern  schon zutrauen kann, sich anhand der wiedergegebenen, unkommentierten Thesen auch eine Meinung über den Inhalt bilden zu können. Wer diesen Link anklickt, gelangt zu den unkommentierten Thesen.

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