Wie ein unzutreffender Gründungsmythos ein Bewußtsein stören kann


Heute, am 11. Juni 2020 wird Brandenburg 863 Jahre alt. So richtig hat das in Brandenburg niemand auf dem Schirm und jene, die daran erinnert werden, begegnen diesem Thema mit einer gewissen Vorsicht, weil die Brandenburgwerdung im kollektiven Gedächtnis irgendwie auch ein barbarischer Akt gewesen zu sein scheint. Aber ist das tatsächlich zutreffend oder lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen? Ich meine, es lohnt sich!

Die besagte „Blutigkeit“ der Brandenburgwerdung entpuppt sich nach Meinung nicht weniger Historiker mehr als Mythos denn als Realität. Ganz sicher war die Machtpolitik des 12. Jahrhunderts und der Jahrhunderte zuvor und danach kein Kaffeekränzchen; im Vergleich zu manch anderer „Landeswerdung“ hält die Entstehungsgeschichte Brandenburgs aber die eine der andere Besonderheit bereit, die es wert wäre Aufnahme in ein „Brandenburgbewußtsein“ zu finden.

Ein wichtiger Punkt hierfür wäre zum einen die Erkenntnis, daß es sich seinerzeit weniger um einen Kampf „Deutsche“ gegen „Slawen“ handelte, sondern vielmehr Christen gegen Heiden. Man nehme nur den sogenannten Wendenkreuzzug von 1147 an dem auch polnische, christliche Fürsten beteiligt waren. Unter dem vorgeblichen Ziel einer Christianisierung ging es hauptsächlich um ein Stück vom Kuchen in einem Gebiet, in dem sich bis dahin keine Staaten ausgebildet hatten, ein Gebiet das nach damaligem (christlichen) Verständnis Niemandsland ergo Freiwild war.

Interessant ist hierbei die Frage, warum sich dennoch eine vermeintliche besondere Blutigkeit der Ereignisse derart im kollektiven Gedächtnis festsetzen konnte? Zu beachten wäre auch, daß sich diese Einordnung nicht nur im im kollektiven Gedächtnis der Deutschen breit gemacht hat, sondern auch in dem der Polen. Und das könnte schon ein Ansatz für die Erklärung sein. Diese „Blutigkeit“ ein Gegeneinander von Slawen und „Deutschen“ gehörte seinerzeit zum Gründungsmythos zweier „moderner“ Nationalstaaten. Die Nationalbewegungen des 19. Jh. rangen nach Legitimation für ihre Ideen eines ethnisch begründeten Staatswesens, etwas, das es so bisher nicht gab. Zuweisungen wie „unerschrocken, siegriech, überlegen“ oder eben „tapfer gegen eine brutale Übermacht verteidigend“ speisten so auch das jeweilige (deutsche, polnische) Nationalbewußtsein. Für die Legitimation des jeweiligen Nationalstaates war es einfach hilfreich in solch stereotypen Kategorien zu denken. Stereotypes Denken ist ja bis heute auch wesentlicher Bestandteil von Nationalismus und Chauvinismus.

Ein Hinweis dafür, daß an dieser These etwas dran sein könnte, zeigt der Vergleich mit analogen Ereignissen, die aber im kollektiven Gedächtnis keines Nationalstaates irgendeine Rolle spielen, die, wie es scheint, überhaupt nicht in diese Richtung bewertet werden. Man schaue da zum Beispiel auf das Ende des 8. Jh. und die Christianisierung der Sachsen. Die Sachsen lebten vornehmlich im heutigen Nordwesten Deutschlands, grob umrissen auf dem Gebiet, das heute als Bundesland Niedersachsen in Erscheinung tritt. Schon die Bezeichnung „Christianisierung der Sachsen“ erweckt den Eindruck, daß es sich hierbei um etwas ganz anderes handeln könnte als bei den Geschehnissen der „Ostkolonisation“ jenseits der Elbe einige hundert Jahre später. Ich meine, daß das eigentlich falsch ist. Im Grunde geschah in den „Sachsenkriegen“ Karls des Großen am Ende des 8. Jh zwischen Franken und Sachsen durchaus Vergleichbares, wenn nicht sogar genau das Gleiche wie später jenseits der Elbe.

Damals waren es staatenbildende, christianisierte Franken die unter Karl dem Großen nicht staatenbildende, in Stammesverbänden lebende heidnische Sachsen bekämpften und auch christianisierten. Auch hier wurde – nicht anders als zunächst im späteren Brandenburg – brutal und blutig gegen die Stammeseliten vorgegangen; die „einfache Bevölkerung“ geriet wie auch später in Brandenburg unter Assimilations- bzw. Integrationsdruck. Da sich aber beide Gebiete, das der Franken als Königreich und das der Sachsen als Stammesgebiet, später in den relevanten Teilen auf dem selben „Hoheitsgebiet“ befanden, taugen die Sachsenkriege nicht für irgendeinen Gründungsmythos.

An dieser Stelle möchte ich also festhalten, daß man durchaus der Auffassung sein kann, daß die Anfänge der Brandenburgwerdung unter lediglich bereits zuvor erfolgreich erprobten Vorgehensweisen und üblichen Mitteln der Konfliktlösung der damaligen Zeit erfolgten.

Was ist nun das Besondere, das Andere rund um die Geschehnisse des 11. Juni 1157?

Nun, sämtliche Versuche seit dem 10. Jh., die staatenlosen Gebiete zwischen Elbe und Oder/Weichsel zu christianiseren und dauerhaft in ein christliches Herrschergefüge einzubinden scheiterten. Also versuchte es Albrecht der Bär mit Annäherung. Auf dem Brandenburger Thron, von dem aus das slawische Hevellergebiet regiert wurde, saß seinerzeit ein gewisser Meinfried. Bei Meinfried dürfte es sich um einen christlichen Taufnamen handeln, der slawische Geburtsname Meinfrieds ist nicht bekannt. „Meinfried“ ist aber auch ein Hinweis auf eine mögliche Verbindung zum Erzstift Magdeburg. Es kann die Vermutung angestellt werden, daß der damalige Magdeburger Burggraf Meinfried der Taufpate des Hevellerfürsten gewesen sein könnte. Unter dieser Annahme ist es dann auch schlüssig, warum Albrecht dem Bruder Meinfrieds, dem ebenfalls schon christlichen Pribislaw-Heinrich im Jahre 1127 zum Thron der Brandenburg verhalf. Das mächtige Erzstift Magdeburg stand Albrechts eigenen Ambitionen im Wege, also war es für ihn hilfreich einen ihm wohlgesinnten Herrscher auf der Brandenburg zu wissen. Zum Dank machte Pribislaw-Heinrich Albrechts Sohn Otto die Zauche (im Grunde der Norden des heutigen Kreises Potsdam Mittelmark westlich der Nuthe) zum Taufgeschenk. Beide „slawisch-deutsche“ Verbindungen, die Meinfrieds mit Magdeburg und die Pribislaw-Heinrichs mit Albrecht deuten übrigens auch wieder darauf hin, daß es lediglich um Machterhalt und Machtaufbau ging und nicht um „deutsch“ gegen slawisch. Für Pribislaw-Heinrich wird sogar eine vorübergehende (Unter)Königswürde angenommen, verliehen von Lothar III. König, später Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Auch dies ein Hinweis darauf, daß sich die Geschehnisse nicht unter „Slawen gegen Deutsche“ zusammenfassen lassen.

Da Pribislaw-Heinrich und seine Frau Petrissa kinderlos waren und blieben, bestimmte Pribislaw-Heinrich seinen Freund und Nachbarn Albrecht wohl schon in der 2. Hälfte der 1120er Jahre zum Erben der Brandenburg und des Hevellerreiches. Als Pribislaw-Heinrich 1150 starb ging die Burg und das Hevellerfürstentum an Albrecht den Bären, ganz friedlich und rechtmäßig. Der (vermutliche) Schwager Pribislaw-Heinrichs, Jaxa von Köpenick, ebenfalls slawischer Christ fühlte sich in der Erbfolge übergangen und eignete sich, wahrscheinlich im Frühjahr 1157 nach Bestechung der slawisch-sächsischen Burgbesatzung in Abwesenheit Albrechts die Brandenburg an. Wenige Monate später belagerte Albrecht der Bär seine Burg und konnte sie am 11. Juni 1157 zurückerobern. Ja, es war ein Kampf und Kämpfe waren blutig, aber sie waren seinerzeit nunmal das übliche Mittel mit welchem in ganz Europa Politik betrieben wurde und daher nicht geeignet sie als exklusiven Makel der Entstehung Brandenburgs zu werten. Im Übrigen gibt es eine Vielzahl Historiker, die auch die in mittelalterlichen Annalen und Chroniken beschriebene Blutigkeit bei der (christlichen) „Eroberung“ des Wendenlandes zwischen Elbe und Oder nicht auf die Geschehnisse rund um Albrecht bezogen sehen wollen, sondern auf die gescheiterten Versuche mit rein kriegerischen Mitteln in den Dekaden zuvor. Zudem darf auch unterstellt werden, daß eine heroisierende Beschreibung unter Hinweis auf hohen Blutzoll die Tapferkeit und Frömmigkeit der jeweiligen Heerführer unterstreichen sollte.

Was an der Brandenbrugwerdung ist nun das, was ich als geeignet für einen Bestandteil des modernes Brandenburgbewußtseins erachte?

Der Erfolg Albrecht des Bären, unseres ersten Markgrafen, in Sachen Brandenburg ist also einer für die damaligen Verhältnisse ausgesprochen diplomatischen und, ja, auch friedlichen Vorgehensweise geschuldet. Auch die weiteren Ereignisse lassen es zu, mit Wohlwollen auf die Geschehnisse zu blicken. Natürlich immer im Kontext der Zeit und nicht aus heutiger Sicht rückwirkend projizierend. Die sächsische und wendische Kultur vermischte sich vielerorts. Archäologische Töpferfunde belegen die Verschmelzung von Techniken und Gestaltungsformen. Ortsnamen die slawischen Ursprungs sind belegen bis heute, daß es sich keineswegs um ein Ausradieren slawischer Kultur gehandelt haben wird. Der Münzfund von Michendorf aus dem Jahre 1880, der aus 1797 Münzen, geprägt zwischen 1140 und 1184 zeigt die Köpfe von Pribislaw-Heinrich, Petrissa und Albrecht. Auch dies ein Beleg für ein grundsätzlich friedliches Miteinander vor und nach 1157

Von Beginn an war Brandenburg ein kultureller Schmelztiegel. Bis in die preußische Zeit hinein siedelten sich hier Menschen auf der Suche nach Zuflucht, einem besseren Leben oder einfach nur nach neuen Möglichkeiten an, sprachen viele Sprachen, pflegten ihre alten Bräuche und verwoben alles zu dem, was man heute als brandenburgisch bezeichnen könnte. Dies ist durchaus geeigneter Stoff für einen Gründungsmythos, für eine regionle Identität und für eine daraus resultierende gern gelebte Tradition. Apropos „siedeln“: Die Bezeichnung „Ostkolonisation“ für die Vorgänge im Mittelalter hat sich erst in einer Zeit durchgesetzt (Mitte des 20. Jh.), als man die negativen Wertungsmöglichkeiten zu den Vorgängen besonders betonen wollte. Zuvor war meist von Ostsiedlung die Rede.

Mit dem Aufkommen der Nationalbewegungen, der Betonung alles „Deutschen“ war Brandenburgs Genese zunächt etwas ausgesprochen Heroisches, heute würde man sagen etwas Deutschtümelndes. Später mit veränderter Sicht und verändertem Zeitgeist – aber aus den gleichen Gründen – wurde die Genese zu einem Makel und wird daher bis heute anhaltend nicht mehr gepflegt. Die zugrunde liegenden Annahmen dürften aber, wie hier versucht darzustellen, in beiden Fällen falsch sein.

Ich möchte also, daß wir Brandenburger uns darauf besinnen, daß wir schon immer Verbindungsglied zischen Ost und West waren, schon immer mit Einwanderung umzugehen wußten, „Nationalität“ im heutigen Sinne zur Gründung und die meiste Zeit der Existenz Brandenburgs keine Rolle spielte und Vielfalt das ist, was uns zu dem machte was wir einst waren und vielleicht wieder sein können und wollen. Aufgeschlossene, selbstbewußte Brandenburger. Wir sollten auch ruhig damit kokettieren, daß wir Brandenburger wohl zu den am „wenigsten deutschen“ Bestandteilen im Bundesgefüge gehören. Na und? Wie der aufrechte Bayer behauptet, daß er nicht deutsch sondern bayrisch sei, gibt auch unsere Geschichte her zu betonen, daß wir hauptsächlich brandenburgisch wären.

Also abschließend: Die eigentliche Brandenburgwerdung geschah weit weniger blutig als ursprünglich von Nationalisten aus reinem Kalkül dargestellt. Wir sollten auf unsere eigene Genese mit einem gewissen Wohlwollen schauen und gerade die nicht von der Hand zu weisenden integrativen Momente in der Entstehung unseres Landes als einen wesentlichen Bestandteil eines „historisch“ gewachsenen, aber leider oft gestörten, Charakterzuges von uns Brandenburgern pflegen. Brandenburgs Entstehungsgeschichte verlief letztendlich nicht blutiger, tatsächlich aber wohl unblutiger als die Entstehung manch anderer historischen Landschaft. Daher ist eine Scheu vor dem begehen eines exponierten Datums wie den 11. Juni eigentlich unangebracht. Wir sind und bleiben die sympathischste Promenadenmischung der Bundesrepublik!

Mehr Brandenburg wagen!

Anmerkung am Rande zum angeblichen „slawisch-deutschen“ Gegeneinander: Auch im erwähnten Wendenkreuzzug von 1147 kämpften „deutsche“ und „polnische“ Fürsten gegen die heidnischen Wenden. 10 Jahre später, 1157 zog Kaiser Friedrich Barbarossa gegen einen Nachfolger dieser Fürsten, Bolesław, zu Felde. Aber auch in diesem Falle nicht, weil er Slawe war und Barbarossa „scharf auf neues Land“ gewesen wäre, sondern weil Bolesław die bisher üblichen Tributzahlungen, die jeder Fürst und Unterkönig an den Kaiser zu leisten hatte verweigerte. In diesem Zusammenhang zumindest erwähnenswert, daß der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion den Decknamen „Barbarossa“ trug. In beiden Fällen 1157 und 1941 wurde ein slawischer, ehemaliger Verbündeter angegriffen mit dem man zuvor ein gemeinsames Interesse an der Landmasse zwischen den eigenen Reichen teilte; 1157 das Land zwischen Elbe und Oder, 1939-1941 das junge, neue Polen. 1941 ging es dann anders als 1157 wirklich um Vernichtung und Landgewinn, dieser Unterschied fiel aber nicht ins Gewicht, da die weiter oben angedeuteten nationalistische Umdeutung der Geschehnisse hin zu einem Gegeneinander von Slawen und Deutschen schon Früchte trug, ja vollends wirkte und die Namensgebung für diesen Überfall nun diesen Vergleich zuließ.

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