Warum ich mit dem Nationenbegriff hadere – Oder: Über die Fragilität einer unumstößlich geglaubten Tatsache

Persönlich kann ich mit dem Begriff „Nation“ recht wenig anfangen. Meine Nationalität stiftet mir wenig Identität und eignet sich für mich auch sonst nicht, daraus irgendwelche Vorrechte oder besondere Pflichten abzuleiten.

Warum das so ist? Ein Versuch der Erklärung:

Die Geschichte der Nationalbewegungen ist bisher eine recht kurze Geschichte. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege beginnt diese Strömung in den deutschen Ländern an Gewicht zu gewinnen und gipfelt zunächst in der 1848er Revolution. Als fortschrittlich und liberal galt, wer national gesinnt war. Spielte bis Napoleon das Deutsche nur eine untergeordnete Rolle – man sprach Deutsch, war aber Bayer, Preuße, Sachse, Österreicher – wurde  das Nationalbewußtsein nun Bestandteil einer demokratisch-republikanisch gesinnten Bewegung gegen die traditionelle, monarchistische Vielstaaterei im vorwiegend deutschsprachigen Mitteleuropa.

Man definierte sich über das Deutschsein – was im Gegensatz zu heutigem, gewandelten  nationalem Denken aber auch mit dem Willen zu Reformen und Demokratie verbunden war. Es sollte für das ganze ehemalige Heilige Römische Reich das verbindende Element werden. Was die einen verbindet, entzweit die anderen. War es in Preußen bisher selbstverständlich verschiedene Sprachen zu sprechen, wurde es von nun an immer wichtiger auch deutsch zu sprechen – nur um nicht ausgegrenzt zu werden.

Dabei ist das identitätsstiftende Moment des deutschen Nationenbegriffs viel willkürlicher, künstlicher, ja ich möchte sagen, gekünstelter als die Übereinkünfte einer Wertegemeinschaft frei von ethnischen Schranken.

Im Gegensatz zum Nationenbegriff, wie er in der Geschichte bis heute zum Beispiel in den Vereinigten Staaten oder Kanada verwendet wird, bezieht er sich in deutschen Landen auf ethnische Aspekte (und entspricht damit der in Deutschland gültigen Definition einer Nation). Andernorts steht „Nation“ für einen Zivilgesellschaft, die sich unter bestimmten Wertvorstellungen vereint und allen Beteiligten, gleich welcher ethnischen Herkunft, diese Werte als Richtschnur gelten und sie verteidigen lassen. Volksgemeinschaft versus Willensgemeinschaft!

Anhand zweier Beispiele möchte ich aufzeigen wie willkürlich die Zuordnung eines Menschen zu einer Nation ist und somit auch, um wie viel schwächer ein Bekenntnis zu einer Nation ist als ein Bekenntnis zu Werten und ethischen Grundsätzen.

Gehen wir gedanklich mal in den Osten des alten Preußen – nach Pommern und Ostpreußen. Zur Zeit der aufkommenden Nationalbewegungen lebten dort auch Kaschuben und Masuren. Ein polnischer Staat existierte nicht, gleichwohl oder auch deshalb gab es aber eine starke polnische Nationalbewegung.

Die Kaschuben waren nach ethnischen Gesichtspunkten mit allem ausgestattet, was zur Gründung einer eigenen Nation von Nöten gewesen wäre. Sie waren eine selbstständige Ethnie mit eigener Sprache und eigenen kulturellen Traditionen – und sie waren katholisch. Die aufkommende kaschubische Nationalbewegung konnte sich aber nicht gegen die in der Region ebenfalls wachsende polnische und deutsche Nationalbewegung durchsetzen. Wie wir heute auf der Landkarte Mitteleuropas sehen, gibt es keine kaschubische Nation, die Kaschuben wurden mehrheitlich, nur aufgrund ihrer Religion, zu Polen und das, obwohl Polen zu der Zeit garnicht existierte. Die Masuren wiederum – ethnisch gesehen Polen – waren evangelisch. Das allein reichte aus, um sie mehrheitlich Deutsche werden zu lassen. Da stößt wohl jede Blut-und-Boden-Theorie oder sonstige völkische Schwärmerei an ihre Grenzen.

Das zweite Beispiel ist etwas persönlicher. Dazu gehen wir gedanklich in ein anderes preußisches Gebiet im Osten, Schlesien. Den Namen könnte die Region von einem Teilstamm der einwandernden germanischen Vandalen haben, den Silingern.  Dennoch war Schlesien lange Zeit slawisch geprägt. Böhmisch-mährische Herrscher und polnische Fürsten rangen um die Vorherschaft in Schlesien. Später gelang es als „Nebenland der Krone Böhmen“ unter die böhmischen Könige aus dem Hause Habsburg und wurde somit ein Teil der Habsburger Monarchie (sehr verknappt dargestellt).

Eigene Ahnenforschung hat  dazu geführt, daß ich in meiner „schlesischen Linie“ über einen recht gut belegten Stammbaum bis zum Jahre 1675 verfüge. 1675 war Schlesien bereits Teil der Habsburger Monarchie. Daß ein Schlesier von sich immer behaupten würde er sei Schlesier, sonst nichts, lasse ich für nachfolgende Betrachtung mal außer Acht.

Vor dem Hintergrund des heutigen Nationenverständnisses, was waren meine schlesischen Vorfahren 1675? Böhmen? Österreicher? Habsburger???

1740 kam dann der Alte Fritz und machte Schlesien zu einer preußischen Provinz. Meine Vorfahren blieben Schlesier,  aus „Österreichern“ wurden aber nun  Preußen! Preußen definierte sich nicht über den heutigen Nationenbegriff, daher kann man das vermutlich so stehen lassen.

Da aber die meisten Zeitgenossen – ich nicht – heute Preußen mit „deutsch“ gleichsetzen und so tun als ob es Nationen nach heutigem Verständnis schon immer gab, kann ich festhalten, daß demnach aus Österreichern, Deutsche geworden sein müssen ( der Zeitgeist übersieht hier regelmäßig, daß für die meisten Europäer damals Österreich ganz selbstverständlich eines der vielen deutschen Länder war)

Ebenso interessant wird es 230 Jahre später, zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Wie damals üblich, hatten auch meine schlesischen Vorfahren viele Kinder, im Durchschnitt 8. Daß man sich als Schlesier des frühen 20. Jahrhundert grundsätzlich weder als rein deutsch oder rein polnisch verstand (Polenl-Litauen existierte da seit 1795 nicht mehr), könnten die vergebenen Vornamen der Geschwister und Cousin(s)(en) belegen. Mein Großvater, 1907 geboren, hieß Franz, ein Bruder Paul ein anderer Idzi – deutsche und polnische Vornamen also. Auch unter den Verwandten gab es Vornamen verschiedener sprachlicher Herkunft, Elisabeth und Elzbieta, Paul und Pawel, Franz und Franciszek. Spannend wurde dann die Entwicklung nach dem 1. Weltkrieg. Meine Urgroßeltern, Urban und Agnes, waren Unternehmer – Brunnenbau, Spedition und Landwirtschaft. Nach den Volksabstimmungen 1921 würden sie in dem Teil Schlesiens wohnen, der bei Preußen/Deutschland verblieb. Meine Urgroßeltern verspürten wenig Lust als Unternehmer in einem Land tätig zu sein, welches horrende Reparationsleistungen zu bewerkstelligen hatte. Also entschied man sich einer Tochter zu folgen, die in einen knapp 20 km entfernten Ort heiratete.(**siehe Nachtrag am Ende) Ein Ort der nun polnisch werden sollte. Haben meine Urgroßeltern ihr Land verraten? Welches Land? Sie waren und blieben Schlesier. Nach heutigem Verständnis wären mit diesem Umzug aber aus Deutschen Polen geworden. Wie irrsinnig die Zuordnung zu Nationen ist  zeigt dann die Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg. Je nach persönlicher Präferenz “entschieden“ sich die Familien der Geschwister und Vettern im Laufe der Jahrzehnte  für die eine oder andere Nationalität; mit allen Konsequenzen. In und nach dem 2. Weltkrieg führte das zu Rissen quer durch die Familien, einige heilten nicht bis zum Ableben der Betroffenen. Ob die Vornamen meiner Vorfahren in den mir vorliegenden Unterlagen rückwirkend germanisiert oder polonisiert wurden, so daß die nun polnischen Ahnen auch polnische Namen trugen und deutsche Ahnen deutsche, weiß ich nicht. Wenn nicht, so erweckt es den Anschein, daß sich  jene mit deutschen Vornamen für Deutschland, jene mit polnischen, für Polen entschieden. So oder so, ein armseliges Argument für das Nationalbewußtsein einer Person!

Ebenso aufschlußreich ist es, einen früheren Zweig der gleichen Linie zu betrachten. Meine Ahnenforschung hat mir neue Verwandtschaft eingebracht – entfernt, aber verwandt. Ich stehe mit einem älteren Herren aus Vermont (USA) in Kontakt, wir reden einander, wie in dieser Konstellation im Englischen wohl üblich, mit „dear Cousin“ an.  Von mir aus gesehen 7 Generationen zurück, von ihm aus gesehen 6 Generationen zurück, haben wir in direkter Linie gemeinsame Vorfahren. Ein Ehepaar, Er 1755 und Sie 1762 geboren – also in der preußischen Provinz Schlesien – hatte mehrere Kinder. Von einem stammt mein neuer Verwandter ab, von einem anderen stamme ich ab. Daß er sich heute als US-Amerikaner betrachtet, sollte nicht weiter verwundern, entspricht das amerikanische Verständnis von „Nation“ doch dem, was man eine Willensnation nennt. Ich bin Brandenburger und gelte damit wohl als Deutscher. Mein Verwandter überm Teich ist aber organisiert bei den „Polish Origns“, Amerikanern mit Polnischen Wurzeln. Seine Vorfahren wanderten 1835 nach Minnesota aus, zu einer Zeit also, als in ganz Europa die Nationalbewegungen erstarkten. Das was man „fühlte“, „war“ man – Schlesier, Deutscher, Pole oder Preuße – je nach Ausrichtung und politischer Präferenz. Die Nachfahren unserer gemeinsamen Vorfahren fühlten sich auf seiner Linie offensichtlich polnisch, auf meiner fühlte man sich deutsch. Eine Wurzel, zwei verschiedenartige Blüten? Sehr willkürlich das Ganze, oder?

Ich meine, daß sowohl das neutrale Beispiel der Kaschuben und Masuren und das persönliche (somit vielleicht etwas subjektive) Beispiel meiner Vorfahren zeigt, daß die Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen  Volksgemeinschaft und somit „Nation“, tatsächlich auch nur ein Bekenntnis ist, genauso wie die Zugehörigkeit zu einer Willensnation; nur, daß nach meinem Dafürhalten eine Volksgemeinschaft ohne Werte ohne gemeinsame Ideale auskommen kann, eine Willensnation aber nicht. Diese fußt auf Werten und Idealen. Es ist egal woher man kommt, wofür man eintritt ist entscheidend. An einem bestimmten Ort geboren worden zu sein, ist an sich keine Leistung, aus der man irgendwelche Vorrechte ableiten sollte; die kulturellen Besonderheiten seines Geburts- oder Lebensortes anzunehmen, den Wertekanon der dort Ansässigen anzunehmen, zu teilen und zu verteidigen aber durchaus. Im Heute scheint das allerdings gar nicht so leicht, weil ein solcher Wertekanon, wie mir scheint, selbst den Autochthonen nichts bedeutet.

In meinen Augen ist nationales Denken, nachdem es womöglich einen fortschrittlichen Ursprung hatte, recht bald zu einem äußere Einflüsse  abwehrenden Denken geworden, diese Abwehr führte und führt, so fürchte ich – über kurz oder lang immer zu Nationalismus und in Konsequenz womöglich zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Ungleich reizvoller wirkt da auf mich ein wertebasiertes Denken – eine wertebasierte Gesellschaft erscheint mir wesentlich offener und zunächst empfänglicher für äußere Einflüsse.  Was nützt es mir in einer Gemeinschaft zu leben, in der zwar das „gleiche Blut“ fließt, aber dies auch schon das Ende aller Gemeinsamkeiten sein kann. Eine Willensnation/-gemeinschaft, ein Wertebund ist ungleich belastbarer und erscheint mir um Längen verteidigungswürdiger. Bei dem einen verteidigt man Blut und Boden, bei dem anderen den Geist und den Boden auf dem er sich entfaltet – nach innen und nach außen.

Nationales Denken hatte seine Zeit und seine Aufgabe. Die hat es erfüllt, blieb dann aber stehen und führte zu Nationalismen und Krieg. Es wird Zeit sich wieder von nationalem Denken zu verabschieden, nicht zurück zur Vielstaaterei, auch nicht hin zu einem europäischen Superstaat ohne landsmannschaftliche Identität, sondern vorwärts zu einem neuen, offenen, regionalen, Bewußtsein, verbunden mit einem verteidigungswürdigen Wertekanon in einem Europa der Regionen. Hin zur Definition über Geist und Wert, weg von der Definition übers Blut – die wie dargestellt, an allen Ecken und Enden in Frage gestellt werden kann.

Brandenburg und später Preußen sind insofern ein schönes Beispiel für das hier Behauptete, als daß sie in ihrer Blüte auch ganz gut ohne einen Nationenbegriff auskam. Brandenburg und Preußen waren multikulturell bevor es das Wort überhaupt gab, jeder sollte nach seiner Façon selig werden, aber alles unter einer starken Staatsfaçon. Wobei „Staat“ hier nicht für eine Nation, sondern für eine Staatsidee steht. Und so ende ich mit dem vielleicht berühmtesten Zitat Christopher Clarks.

„Preußen war ein europäischer Staat, lange bevor es ein deutscher wurde. Deutschland war nicht die Erfüllung Preußens, sondern sein Verderben.“

 

** Nachtrag vom 2. März 2015: Eher zufällig bin ich heute (2. März 2015) auf einen Zeitzeugenbericht aus dem Dorf meines Urgroßvaters gestoßen. Demnach sind wohl einige Einordnungen zu korrigieren. Laut Zeitzeugenbericht gehörte mein Urgroßvater zu den zwei sich offen zu Polen bekennenden Dorfbewohnern. („Der Zementwarenfabrikant Urban Mainka“) ein Umzug aufgrund der im Bericht beschriebenen Repressalien scheint daher wahrscheinlicher als allein aus wirtschaftlichen Überlegungen.

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