Schwieriges Thema: Flucht und Vertreibung

  1. April 2012

Schwieriges Thema: Flucht und Vertreibung

Auf einer Tagung in Berlin ging es im Februar um die Antwort auf die Frage, ob die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg Unrecht war. Nachfolgend eine Betrachtung zum Thema.

 

Zu Beginn jedoch noch eine kleine Anmerkung. Bei der Behandlung dieses Themas läuft man all zu schnell Gefahr vorschnell in eine bestimmte politische Ecke gestellt zu werden. Ich hoffe, daß nachfolgender Text dazu keinen Anlaß gibt. Es soll der Versuch angestellt werden das Thema um einen Aspekt zu erweitern, den ich in den meisten Diskussionen diesbezüglich vermisse beziehungsweise nicht ausreichend gewürdigt sehe.

Darf man der Berichterstattung zur Tagung Glauben schenken, so lautete das Resümee, daß die Betroffenen der Vertreibung letztendlich – womöglich auch nur im übertragenen Sinne – aufgrund deutscher Kriegsschuld, -taten und -gräuel, selbst (eine) Schuld an der Vertreibung mit ihren Begleiterscheinungen tragen.

Das auf besagter Veranstaltung gezogene Resümee ist ja nun keine neue Erkenntnis, sondern im gewissen Sinne schon lange Bestandteil der Staatsraison Deutschlands – leider.

Die Diskussion darüber scheint mir aber sehr schräg und unter untauglichen Grundannahmen zu laufen. Sowohl auf Seiten der Befürworter als auch auf Seiten der Gegner eines solchen Resümees.

Nach meinem Dafürhalten, diskutieren alle Seiten unter Verwendung falscher Voraussetzungen. Daß dies die Befürworter des „Selber-schuld“-Urteils tun, ist verständlich, benötigen sie diese Annahmen doch, um zumindest oberflächlich eine einigermaßen logisch erscheinende Argumentationskette aufbauen zu können. Daß die Gegner dieses Urteils – und  hiermit meine ich ausdrücklich nur jene, die dem demokratischen Spektrum zuzurechnen sind –  sich in eine solche Diskussion drängen lassen, löst bei mir ein wenig Verwunderung aus.

Jemand tut einem Anderen etwas an – diesem steht dafür eine Entschädigung zu. Das stimmt, das ist ein Gebot der Vernunft und das ist logisch – hat aber mit der Sache, um die es hier geht, rein gar nichts zu tun.

Der Fehler beginnt schon bei jenen, die das Resümee für falsch halten. Wo genau? Hier!: Man betrachtet die Geschehnisse im Grunde sehr egozentrisch! Wenn man es schafft für die Bewertung der Sachlage – so schwierig es sein möge – das eigene Schicksal außer Acht zu lassen und nur die betreffende politische Großwetterlage zu betrachten, erhält man eine Basis, auf welche sich die in einigen Augen vernünftige, gerechte Schlußfolgerung quasi von allein aufbaut.

Zunächst sollten man, so meine ich, zwei Dinge trennen: den Verlust von Hoheitsrechten – also die Abtretung von Staatsgebiet auf der einen und die Vertreibung auf der anderen Seite.

Sich verändernde Grenzverläufe hat es über die Jahrhunderte immer gegeben (Lothringen, Saarland, Schleswig, Schlesien nach dem 1. Weltkrieg). Was es in diesem Maße aber noch nicht gab ist die forcierte Flucht bzw. staatlich organisierte Vertreibung.

Ich meine, daß der Verlust der Ostgebiete belegbar nichts mit der zweifelsohne vorhandenen deutschen Kriegsschuld und den durch Deutsche und Deutschland dem polnischen Volk zugefügtem Leid zu tun hat. Aber der Reihe nach!

Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges verbündeten sich bekanntermaßen Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion. Im geheimen Zusatzprotokoll dieses Vertrages (Hitler-Stalin-Pakt / Ribbentropp-Molotow-Abkommen) wurde Europa unter beiden aufgeteilt.

Die Sowjetunion war also Verbündeter Deutschlands. Es gab Offizieraustauschprogramme, sowjetische Waffenschmieden fertigten Kriegsmaterial in deutscher Lizenz, Getreidelieferungen u.v.m.

Am 1. September 1939 greift nun Deutschland Polen an und marschiert ein. Am 17. September greift die Sowjetunion, gemäß Absprache, als deutscher Verbündeter ebenfalls Polen an. Es gibt Filmaufnahmen die zeigen Wehrmacht und Rote Armee bei „feierlichen Stadtschlüsselübergaben“ in den Fällen, in welchen eine Armee „versehentlich“ zu weit in das Interessengebiet des Bündnispartners vorgedrungen ist. An DDR-Schulen wurde dieser sowjetische Einmarsch übrigens als Befreiung Polens gefeiert.

Zusammengefaßt kann und muß man also sagen, Deutschland und die Sowjetunion sind die Täter und greifen gemeinsam Polen an – eindeutig das Opfer.

Schaut man sich nun an, was mit Polen nach dem Krieg geschah, müssen wir uns eigentlich die Augen reiben, weil es mit Vernunft, Gerechtigkeitsempfinden und Logik einfach nicht zu begründen ist.

Das eindeutige Opfer Polen soll Gebiete an die Sowjetunion abtreten. Gebiete die ziemlich genau der sowjetischen Interessenlage wie sie im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalinpaktes beschrieben wurden entsprechen. Das Ziel ethnischer Homogenität für die Legitimierung von Völkerrechtsverstößen, um eine Korrektur der Grenze aus dem Frieden von Riga 1921 zu erreichen, darf in meinen Augen kein Argument sein, um diese Gebietsabtretungen irgendwie legitimieren zu wollen. Die Grenzen Polens waren vor dem Krieg völkerrechtlich anerkannt und im konkreten Fall ist der Frage nach „Volkstums- und Sprachgrenzen“ nach meinem Dafürhalten keine Bedeutung beizumessen. Zumal die Ostgrenze Polens bei dessen Neugründung nicht ethnischen oder sprachlichen Gesichtspunkten folgte, sondern vielmehr der Gründungsidee Pilsudskis, einen förderalen,
multiethnischen Staat nach historischem Vorbild zu schaffen, entsprach.

Curzons Vorschlag und britischer Standpunkt während des 2. WK paßten lediglich sehr gut zu den sowjetischen Territorialinteressen. 1921 sahen einige Offizielle in Großbritannien in den polnischen Erfolgen in den Grenzkriegen übrigens noch die Rettung des Westens vor dem Kommunismus.

Auf der Teheran-Konferenz 1943 wurde unter anderem die neue Grenze zwischen Polen und der Sowjetunion im Nachkriegseuropa festgelegt.
Stalin hatte also gegenüber den Alliierten USA und GB die Durchsetzung der die Sowjetunion betreffenden Inhalte eines Vertrages, welchen er mit Hitler geschlossen hatte, gefordert und war damit erfolgreich. Das an sich ist schon ungeheuerlich. Also entschied man sich Polen wenigstens mit einigen deutschen Ostgebieten zu „entschädigen“. Ergebnis ist also das, was wir heute als Westverschiebung Polens bezeichnen. Der Verlust der Ostgebiete ist demnach nicht eine Entschädigung an Polen aufgrund der deutschen Kriegstaten, sondern eine Entschädigung an Polen durch die Alliierten aufgrund der erfolgreichen Durchsetzung territorialer Interessen der Sowjetunion an ihrer Westgrenze. Nicht vergessen sollte man auch, daß die Aufteilung Europas in deutsche und sowjetische Interessensphäre bzw. nach dem Krieg die Absicherung der gleich gebliebenen sowjetischen Interessen nicht nur Polen, Deutschland und die Sowjetunion betraf, sondern Auswirkungen vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer hatte. (Finnland verlor beispielsweise schon 1940 seinen einzigen Eismeerhafen an die Sowjetunion und erhielt ihn nach Kriegsende selbstverständlich auch nicht wieder). Nebenbei: Polen hatte 1938 eine Fläche von 389.720 km² – heute hat es eine Fläche von 312.685 km²; es verlor also trotz Westverschiebung eine Fläche von der Größe des heutigen Tschechiens!!!

Schlußendlich muß man die Frage nach der Bewertung der Abtretung deutscher bzw. preußischer Ostgebiete gar nicht gesondert stellen, da diese Abtretung lediglich eine Folge der Westverschiebung Polens ist. Also sollte dem Prinzip des gesunden Menschenverstandes folgend, die Abtretung deutscher Gebiete genau so zu bewerten sein wie die polnische Westverschiebung. Es ging nicht darum Deutschland zu bestrafen, zu verkleinern oder um andere deutschlandbezogene Dinge, die in diesem Zusammenhang immer noch und immer wieder gerne behauptet werden. Es ging ausschließlich um die Durchsetzung sowjetischer Interessen an der Westgrenze der SU.

Wenn man es also als gerecht empfindet, daß das eindeutige Kriegsopfer Polen, einfach so und zusätzlich trotzdem noch unter Verlust von 77.000 km² Fläche, auf der Landkarte verschoben wird, weil ein Diktator vom „Westen“ das zugestanden bekommen wollte, was er mit einem anderen Diktator vereinbart hatte, dann, und nur dann, kann man auch die Abtretung der deutschen/preußischen Ostgebiete rechtens finden.

Daran ist aber vielleicht auch zu erkennen, daß die Bewertung dieser Problematik keine Frage der Zugehörigkeit zu einem bestimmten politischem Lager ist, sondern eher eine Frage von Gerechtigkeitsempfinden und Vernunft. Willy Brandt wußte das noch. Der Zeitgeist hat sich geändert und schon gerät man in Konflikt mit der geltenden Staatsraison.

Hätte Polen seine Ostgebiete behalten dürfen und hätte es trotzdem noch die deutschen Gebiete dazu bekommen, könnte man vielleicht von einem Entschädigungsversuch sprechen, so ist es aber nur eine Art Schweigegeld.
Die Kommunistische Führung Polens setzte dem offiziell auch nichts entgegen und beschwichtigte sich und die Bevölkerung mit der erst zur Zeit der polnischen Teilungen (nach 1795) aufgekommenen Idee des piastischen Polens, wonach die neuen Westgebiete gar nicht so neu waren, sondern lediglich wiedergewonnen wurden.

Was hätte die hier beschriebene Sichtweise bezüglich der Westverschiebung Polens für Auswirkungen auf die Bewertung von Flucht und Vertreibung? Nun, wenn man akzeptiert, und das muß man wohl, daß die Westverschiebung Polens nichts mit der deutschen Kriegsschuld, sondern mit sowjetischen Territorialinteressen unter Billigung der USA und
Großbritanniens zu tun hat, so muß man auch zum Schluß kommen, daß die Folge dieser Verschiebung, die Vertreibung, ebenso wenig mit der vorhandenen Kriegsschuld zu tun hat und die Aussage „Selber schuld“ nicht greifen kann. Nebenbei: Vergessen werden sollte an dieser Stelle auch nicht, daß bevor 14 Mio Deutsche vertrieben wurden bereits 1939 3,5 Mio polnische Staatsbürger ihre Heimat verlassen mussten, oftmals verbunden mit einem mindestens sechsjährigen Umweg über sibirische Arbeitslager und Kohlebergwerke.

Grenzverschiebungen hat es in der Geschichte oft gegeben, neu ist eine Vertreibung vorliegenden Ausmaßes. In Polen wusste man, daß die eigenen Ostgebiete auf immer verloren sind, die hinzugewonnenen Westgebiete aber zunächst nur für 50 Jahre, also bis 1995 unter polnischer Verwaltung stehen sollten – was ja theoretisch auch für das an die SU gegangene Königsberger Gebiet galt. Wie es letztendlich mit Deutschland weitergeht war zu diesem Zeitpunkt nicht abzusehen und vollkommen unklar – also entschloss sich die kommunistische Führung schnell Fakten zu schaffen – Ergebnis: Vertreibung.
Allerdings war die Umsiedlung keine ausschließliche Idee der polnischen Kommunisten, sondern ebenfalls von SU, USA und GB so beschlossen, „human“ sollte sie von statten gehen – die Realität sah bekanntermaßen anders aus.

Letztendlich ist es schade, daß auf beiden Seiten Ressentiments zwischen Opfern gepflegt werden. Polnische und deutsche Vertriebene eint vielmehr als sie trennt. Beide haben sich in Teilen zu Handlangern eines verbrecherischen Systems machen lassen und beide haben letztendlich, die einen davor, die anderen danach, ihre Heimat verloren, wurden vertrieben und neu angesiedelt.

Wie auch immer man zu letzem Absatz steht, Schlussfolgerung sollte sein, daß polnische und deutsche Vertriebene und deren Nachfahren auch Opfer des gleichen Vorgangs sind. Eine Rückgabe von Eigentum sollte, um des lieben Friedens Willen und auch um neues Unrecht zu vermeiden, nicht gefordert werden. Wohl aber die Möglichkeit die Vorgänge ganz selbstverständlich als das zu bezeichnen, was sie in meinen Augen sind: ungerecht und verbrecherisch und womöglich ein Geburtsfehler der europäischen Nachkriegsordnung. Über finanzielle Entschädigung könnte man vielleicht nachdenken; nicht aber von Polen an Deutsche, sondern von den drei betreffenden Alliierten bzw. in einem Falle dessen Rechtsnachfolger an die Opfer beider Völker, Polen und Deutsche.

Schön wäre auch, wenn Polen und Deutsche akzeptieren könnten, daß es nun, fast 70 Jahre nach Kriegsende zwei Nationalitäten gibt, die ein und dasselbe Gebiet zu Recht als Heimat bezeichnen wollen und es auch dürfen sollen. Vielleicht wäre das ein Keim aus dem was wunderbares Neues erwächst.

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